Sprachförderung oder Sprachtherapie?
Wenn Eltern Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung ihres Kindes feststellen, sollten sie sich nicht verrückt machen lassen, sondern in Ruhe die Entwicklung des Kindes mit dem Kinderarzt besprechen. Tatsächlich verläuft die Sprachentwicklung sehr variabel, bei dem einen Kind früher oder schneller, bei dem anderen später und mühsamer.
Bei vielen Kindern wechseln sich Phasen von großen Fortschritten mit Phasen scheinbarer Stagnation ab.
Gerade bei jüngeren Kindern haben Eltern, die nicht durch eigene existentielle Probleme abgelenkt sind, ein meist sehr gutes Gespür dafür, wann ihr Kind ein echtes Problem entwickelt. Der Kinderarzt/ die Kinderärztin (oder ein Facharzt/ eine Fachärztin für Stimm- und Sprachstörungen), der/die auch im Verdachtsfall zum Logopäden/ zur Logopädin weiter verweisen kann, ist erste Anlaufstelle für besorgte und auch verunsicherte Eltern.
Wann reicht eine Sprachförderung?
Schwierige soziale und ökonomische Belastungen einer Familie können die Sprachentwicklung eines Kindes erschweren. Manchmal sind Eltern so mit ihren Problemen beschäftigt, dass ihnen Zeit und Aufmerksamkeit für das Gespräch mit ihren Kindern fehlt. Auch fällt es Kindern schwerer, Deutsch als zweite Sprache zusätzlich zu ihrer Muttersprache zu lernen, wenn die Sprachen 'gemischt' werden, d.h. eine Bezugsperson mal die eine, mal die andere Sprache spricht.
Es gibt viele Gründe, warum die Sprachentwicklung eines Kindes auffällig sein kann, ohne, dass direkt eine Sprachstörung vorliegt.
Häufig reicht es, die "sprachschwachen" Kinder besonders zu fördern. Dabei wird nicht so sehr auf individuelle Defizite, sondern allgemein auf die Stärkung und Weiterentwicklung vorhandener Fähigkeiten in den Bereichen Sprachmelodie, Grammatik oder Wortschatz eingegangen. Dies geschieht beispielsweise durch spielerische Sprachförderprogramme im Kindergarten. Auch eine Beratung der Eltern durch einen Logopäden/eine Logopädin ist manchmal sinnvoll, um aufzuzeigen, wie diese die Sprachentwicklung ihres Kindes im Alltag fördern können. Des Weiteren gibt es je nach Region auch schon Angebote zu Elterntrainings, die Logopäd*innen im Auftrag von Jugend- und Gesundheitsämtern oder auch „Elternschulen“ durchführen. Insbesondere für Eltern von Late Talkern, das sind Kinder im Alter von 2 Jahren, die keine 50 Wörter sprechen und Wörter nicht kombinieren, ist das "Heidelberger Elterntraining" geeignet.
Kinder mit Sprachstörungen brauchen logopädische Therapie
Kinder mit Sprachstörungen brauchen dagegen logopädische Therapie. Eine allgemeine Sprachförderung kann ihnen nicht helfen. In der Regel wird die Therapie als Einzelbehandlung, gelegentlich aber auch gemeinsam mit anderen Kindern in einer Gruppe durchgeführt. Die Behandlung verläuft spielerisch und ist an die Symptome, an das Alter des Kindes und seinen Entwicklungsstand angepasst.
Sprachförderung kann Sprachtherapie nicht ersetzen.
Die Programme zur vorschulischen Sprachförderung, die für viele sprachschwache Kinder eine große Chance darstellen, können für Kinder mit einer Sprachentwicklungsstörung zur Förderfalle werden. Denn durch die Teilnahme an für alle sprachauffälligen Kinder konzipierten Fördermaßnahmen kann eine echte Sprachentwicklungsstörung nicht überwunden werden.
Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass mit einer allgemeinen Sprachförderung bei Kindern mit Sprachstörungen nach dem dritten Lebensjahr keinerlei Aufholeffekte mehr zu erreichen sind.
Trotzdem werden immer wieder Kinder, die eine Sprachtherapie brauchen, in eine allgemeine Sprachfördermaßnahme geschickt.
Ein Grund hierfür ist der verbreitete Mythos, nach dem soziale Faktoren, wie beispielsweise eine mangelnde sprachliche Anregung durch die Eltern, ursächlich für die Entstehung von Sprachentwicklungsstörungen sind, denen man mit pädagogischen Mitteln zu begegnen können glaubt. Doch es ist wissenschaftlich bewiesen, dass die genetische Prädisposition der entscheidende Faktor für eine Sprachentwicklungsstörung ist.
Ein weiterer Grund ist die falsche Auffassung, dass sprachliche Auffälligkeiten bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern "natürlich" im gleichzeitigen Erlernen mehrerer Sprachen begründet seien. Jedoch belegen wissenschaftliche Studien, dass das Risiko für eine Sprachentwicklungsstörung bei bilingualen Kindern sogar eher geringer ist als bei Kindern, die nur eine Sprache sprechen.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass eine differenzierte Sprachdiagnostik die Grundvoraussetzung dafür ist, dass jedes Kind mit einer sprachlichen Auffälligkeit das bekommt, was es braucht: Sprachförderung oder Sprachtherapie.
Literaturhinweise
- Largo, R. (2010). Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Babyjahren. Überarbeit. Neuausgabe, München: Piper
- Reich, H.H. & Roth, H.J. (2002). Spracherwerb zweisprachig aufwachsender Kinder und Jugendlicher. Ein Überblick über den Stand der nationalen und internationalen Forschung. Freie und Hansestadt Hamburg (Hrsg). https://epub.sub.uni-hamburg.de/epub/volltexte/2007/32/pdf/gutachten_zur_zweisprachigkeit_pdfpropertysource.pdf
- Tracy, R. (2007). Linguistische Grundlagen der Sprachförderung: Wieviel Theorie braucht (und verlangt) die Praxis? In: Ahrenholz, B. (Hrsg.). Deutsch als Zweitsprache. Voraussetzungen und Konzepte für die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 17-29.