Redeflussstörungen (Stottern/Poltern)
Redeflussstörungen sind Auffälligkeiten im Sprechablauf, die verschiedene Ursachen habe und sich in verschiedenen Störungsbildern zeigen können.
Es kann zu Beschleunigungen und Verlangsamungen des Sprechflusses, aber auch zu Wiederholungen, Dehnung, Zusammenziehungen und Blockaden kommen.
Redeflussstörungen können in Form von Stottern und/oder Poltern auftreten.
Stottern
Stottern ist eine Störung des Redeflusses, bei der der Redefluss durch Wiederholungen, Dehnungen und Blockaden unterbrochen wird
Stottern löst Unsicherheiten und Vorurteilen aus – dies jedoch zu Unrecht, wie die Forschung der letzten Jahre gezeigt hat. So kann Stottern gezielt erkannt und bei Bedarf in allen Altersgruppen gut behandelt werden.
Auch das Wissen über Ursachen und Erscheinungsbild des Stotterns hilft, die Redeflussstörung zu erfassen und Betroffene sowie Eltern spezifisch zu beraten.
Poltern
Poltern ist eine Störung des Redeflusses, bei der der Redefluss als zu schnell und irregulär beschrieben wird.
Es kann auch vorkommen, dass der Sprecher stellenweise gar nicht verstanden wird. Betroffene können ein eingeschränktes Störungsbewusstsein, eine geringe Aufmerksamkeitsspanne, Störungen der Wahrnehmung und der Artikulation sowie Schwierigkeiten zu formulieren haben (Weiss, 1964).
Gegenüber dem Stottern ist das Poltern eine eher unbekannte Redeflussstörung, weswegen die Diagnose häufig erst sehr spät oder gar nicht gestellt wird. Das Bewusstsein dieser Störung ist in der Gesellschaft nicht weit verbreitet ist.
Ursachen
Stottern
Nach heutigem Kenntnisstand ist Stottern zu einem großen Teil genetisch bedingt ist. Das bedeutet, dass eine Veranlagung zu stottern vererbt werden kann.
Diese Veranlagung scheint Auffälligkeiten im Gehirn zu verursachen. Dies wurde in bildgebenden Untersuchungen stotternder Proband*innen nachgewiesen. Die neurologisch bedingte Fehlsteuerung der Sprechmotorik bedingt zunächst die Kernsymptome.
Damit ist die früher verbreitete Theorie, dass ein bestimmtes Erziehungsverhalten oder negative Erlebnisse in der Kindheit Ursachen für Stottern sind wiederlegt.
Trotzdem ist nach wie vor nicht endgültig geklärt, warum manche Menschen Stottern und andere nicht. Eine klare Ursache, die auf alle stotternden Menschen zutrifft, gibt es nicht.
Die Häufigkeit und Ausprägung von Symptomen kann durch verschiedene Faktoren ausgelöst, aufrechterhalten oder sogar verstärkt werden, bspw. durch einen tabuisierenden Umgang mit Stottern oder vermeintlich gut gemeinte Ratschläge wie „Sprich langsam“
Stottern ist keine psychische oder intellektuelle Störung.
Poltern
Es wird diskutiert, ob Poltern dadurch zustande kommt, dass sprachliche Äußerungen bereits gesprochen werden, bevor ihre Planung abgeschlossen ist.
Die genauen Ursachen sind allerdings noch nicht hinreichend geklärt.
Poltern ist keine psychische Störung.
In vielen Anamnesegesprächen wurde festgestellt, dass Poltern familiär gehäuft auftritt (Weiss, 1964, Becker & Grundmann, 1970, Op’t Hof & Uys, 1974: alle in Sick, 2014), sodass auch genetische Veranlagungen diskutiert werden.
Häufigkeit
Stottern
Ungefähr 5% aller Kinder stottern.
Diese Phase hält meist über einen kurzen Zeitraum an. So liegt die Chance einer Überwindung der Störung im ersten Jahr nach Stotterbeginn bei 70 bis 80%.
Auch nach diesem Zeitraum sind Remissionen (Rückgänge) möglich. Je länger das Stottern andauert, desto geringer fällt jedoch die Remissionswahrscheinlichkeit aus. Allerdings lässt sich für ein einzelnes Kind bisher noch keine sichere Vorhersage treffen, ob es sein Stottern überwinden wird oder nicht. Es gibt eine Reihe von Faktoren, die eine Überwindungswahrscheinlichkeit beeinflussen, darunter auch die familiäre Disposition und das Geschlecht. Studien konnten zeigen, dass der Anteil an Jungen mit Sprechunflüssigkeiten etwas höher ist, als der Anteil der Mädchen (Yairi 1981 in Neumann et al., 2016).
Poltern
Verschiedene Studien geben die Auftretenshäufigkeit im Kindesalter mit 0,4-1,5% an (Perelló, 1970, Becker & Grundmann, 1970: alle in Sick, 2014). Aktuellere wissenschaftlich fundierte Prävalenzraten (Auftretenshäufigkeit) gibt es nicht.
Es konnte jedoch festgestellt werden, dass Poltern häufiger bei Jungen, als bei Mädchen auftritt (Becker & Sovák, 1983, Op’t Hof & Uys, 1974, Ludlow et al, 1995, Alm, 2011: alle in Sick, 2014).
Oft werden auch Mischformen von Poltern und Stottern mit unterschiedlichen Gewichtungen der beiden Störungen beobachtet.
Symptome
Stottern
Man unterscheidet beim Stottern zwischen Kernsymptomen und Reaktionen auf diese, sog. Begleitsymptome bzw. Copingstrategien.
Die Kernsymptome beim Stottern sind:
- unfreiwilligen Wiederholungen von Lauten, Silben und/oder Teilworten (Ka-ka-ka-katze)
- Dehnungen (Verlängerungen) von Lauten (Mmmmmmaus) und
- Blockierungen, bei denen die Sprechbewegung völlig „steckenbleibt“ (--------apfel) und die Atmung, die Artikulation und die Phonation ausbleiben.
Die Reaktionen auf diese Kernsymptome sind ein gelerntes Verhalten und entstehen aus dem Versuch heraus, die Kernsymptomatik zu überwinden oder ihnen vorzubeugen. Diese Reaktionen können sehr vielfältig sein und zum Teil ein für die Sprecher sehr belastendes Ausmaß erreichen. Zu beobachten sind (aus Neumann et. al., 2016, S. 35-36):
- Gepresster Stimmklang, Ansteigen von Lautstärke oder Tonhöhe, Tremor
- Forcierte oder unregelmäßige Ein- oder Ausatmung beim Sprechen; Atemvorschub (vor dem ersten Laut wird hörbar Luft abgeblasen); inspiratorisches Stottern
- Mitbewegungen in Mimik, Gestik, Rumpf und Extremitäten
- Flüstern, rhythmisierendes oder skandierendes Sprechen, Singsang, inspiratorisches Sprechen (Sprechen während der Einatmung)
- Vorbeugendes Umschreiben, Umformulierungen, Ersetzen gefürchteter Wörter (sprachliches Vermeidungsverhalten)
- Einschieben von Lauten, Silben, Wörtern und Floskeln „ge-äh-ge-äh-kommen“; „Und also mal dann also mal bin ich also mal nach Hause“
- Themenänderungen, Kommunikationsabbruch, verbales Kommentieren, z. B. „Das geht gerade nicht.“
- Satzabbrüche, Phrasenwiederholungen, Stop-and-Go-Mechanismen (Zurückprallen) „Da sind wir (stop)…(go) sind wir nicht mehr rangekommen.“
- Situative Vermeiden: vorgeben, kein Interesse an der Sprechsituation zu haben; schriftlich (Internet, SMS) statt verbal kommunizieren
- Wortängste, Lautängste, generalisierte Sprechangst, Verlegenheitslachen, sich abwenden, Mund hinter der Hand verbergen, Abbruch des Blickkontaktes, nesteln
- Erröten, Schwitzen, Tachykardie (schneller Herzschlag)
- Vermeidung von Situationen, keine mündliche Mitarbeit in der Schule
- Emotionale Reaktionen, psychosoziale Belastung: Sprechangst, Scham, Wut, Frustration, Hilflosigkeit in Verbindung mit Stottern und Sprechen
- Negative Bewertung des eigenen Sprechens, vermindertes Selbstwertgefühl, pessimistische Einschätzung der eigenen sozialen Kompetenz, exzessive Vorbereitung auf Gesprächssituationen
Die Verkettung von Kernsymptomen und Reaktionen darauf können rasch zu einem sich selbst verstärkenden Kreislauf werden, den negative psychische Reaktionen wie sprechbezogene Ängste und/oder Schamgefühle antreiben. Stress und negative Emotionen beim Sprechen erhöhen wiederum die Auftretenswahrscheinlichkeit des Stotterns.
Die Symptomatik des Stotterns kann sowohl situativ auch als phasenweise stark schwanken, was den Umgang damit für Betroffene erschwert.
Das Stottern bei älteren Kindern und Jugendlicher ähnelt dem der Erwachsenen.
Poltern
Poltern zeigt sich in schnellem und / oder unregelmäßig (irregulär) schwankendem Sprechtempo.
Es treten dabei folgende Symptome auf (aus Neumann et. al., 2016, S. 152):
- häufig abnorm schnelles und/oder irreguläres Sprechen, gepaart mit der Unfähigkeit, normale Laut-, Silben-, Phrasen- oder Pausenmuster aufrecht zu erhalten
- Wiederholungen von Silben, Wörtern und Satzteilen; seltener finden sich Lautwiederholungen (Dalton & Hardcastle 1989, Weiss 1967, St. Louis & Myers 1996)
- Reduktionen (Verminderungen) und Kontaminationen von Lautfolgen und Wörtern sowie Lautersetzungen und Lautveränderungen, die zusammen häufig zur Unverständlichkeit von Äußerungen führen (z. B. Chn afan fan [çn avan fa:n] = Ich bin auf der Autobahn gefahren)
- Unangepasste Intonation und Betonung (Diedrich 1984) oder monotone Sprechweise (Weiss 1964; Dalton & Hardcastle 1989; Daly 1996).
Zusätzlich können auch weitere Symptome auftreten, wie z.B.
- Fehler in der Grammatik, dem Wortschatz und der Wortfindung
- Schwierigkeiten in der sprachlichen Strukturierung (Erzählverhalten)
- Auffälligkeiten in Kommunikation und Pragmatik
(weitere Informationen in Neumann et. al., 2016).
Das Sprechen wird durch die oben beschriebenen Symptome schwer verständlich, phasenweise unverständlich.
Poltern kann sich mit dem Beginn der Pubertät verstärken.
Was können Eltern tun?
Eltern stotternder und polternder Kinder sollten dem Erstauftreten der Symptomatik mit Gelassenheit begegnen.
Das stotternde oder polternde Sprechen des Kindes sollte zunächst wie normales Sprechen angenommen werden.
Wichtig ist, sich auf den Inhalt des Gesagten und nicht auf die Form zu fokussieren. Hilfreich für die Betroffenen ist es bewusst Blickkontakt zu halten und dem Kind Zeit zu geben, auszusprechen. Verbalisiert das Kind negative, sprechbezogene Gefühle oder ist verunsichert, ist es wichtig, mit ihm darüber zu sprechen und die Sprechunflüssigkeit nicht zu tabuisieren. Hält die Phase des unflüssigen Sprechens an oder verstärkt sich und reagiert das Kind negativ darauf, sollten Eltern das Gespräch mit dem Kinderarzt/ der Kinderärztin suchen. Anhand eines Leitfadens für Redeflussstörungen oder der Leitlinie für Redeflussstörungen kann dann entschieden werden, inwieweit therapeutischer Behandlungsbedarf besteht.
Wichtig für den Erfolg der Therapie ist, neben der Therapie mit dem Kind, die Elternarbeit.
Eltern sollten dazu bereit sein, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und die Redeflussstörung ihres Kindes zu akzeptieren.
Informationen und Unterstützung zur Therapeutensuche bekommen Sie bei der Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe e.V. (BVSS).
Literatur und Material
BVKJ (Hrsg.) (2016). Stottern. Ein Leitfaden für die kinder- und jugendärztliche Praxis.
Natke, U. & Kohmäscher, A. (2020). Stottern: Wissenschaftliche Erkenntnisse und evidenzbasierte Therapie. Neuss: Natke-Verlag
Neumann, K., Euler, H.A., Bosshardt, H.G., Cook, S., Sandrieser, P., Schneider, P., Sommer, M. & Thum, G.* (Hrsg.: Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie) (2016). Pathogenese, Diagnostik und Behandlung von Redeflussstörungen. Evidenz- und konsensbasierte S3-Leitlinie, AWMF-Registernummer 049-013, Version 1; www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/049-013.html. *im Auftrag der Leitliniengruppe
Sandrieser, P. & Schneider, P. (2015). Stottern im Kindesalter. Stuttgart: Thieme.
Schneider, P. (2013). Stottern bei Kindern erfolgreich bewältigen. Neuss: Natke Verlag
Sick, U. (2004). Poltern. Theoretische Grundlagen. Diagnostik und Therapie. Stuttgart: Thieme.
Wendler, J. & Appel, H. (2005). Lehrbuch der Phoniatrie und Pädaudiologie. Stuttgart: Thieme, S. 306.
dbl-Materialien
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- Positionspapiere
Behandlungsleitlinie
Die Verlinkung zur aktuellen Leitlinie zum Thema „Redeflussstörungen“ finden Sie unter: forum-logopaedie.de: medizinische Leitlinien
Links
Fachzeitschriften:
- Der Kieselstein
Forum und Mitgliedermagazin der Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe - Journal of Fluency Disorders
Organ der International Fluency Association (IFA) - One Voice
The Newsletter of the International Stuttering Association (ISA)
Fachorganisationen:
- IVS, Interdisziplinäre Vereinigung für Stottertherapie e.V. (Vereinigung von StottertherapeutInnen und WissenschaftlerInnen aus unterschiedlichen Disziplinen)
- IFA, International Fluency Association (Internationale, interdisziplinäre Fachorganisation auf dem Gebiet der Stottertherapie)
Selbsthilfe:
- Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe e.V. (Dachverband der deutschen Selbsthilfe stotternder Menschen)
- ELSA, European League of Stuttering Associations (Europäischer Dachverband nationaler Stotterer-Selbsthilfeorganisationen)
- Flow Sprechgruppe (junge Selbsthilfe der BVSS)
Sonstige:
- The Stuttering Homepage (Fundgrube für Fachleute und Betroffene an der Minnesota State University, Mankato, USA)
- Demosthenes-Institut (Literatur- und Filmmaterial, kostenpflichtig)
- Natke Verlag (Literatur- und Filmmaterial, kostenpflichtig)
Für Nicht-Mitglieder
Literatur
Die Artikel, die seit 2002 in unserer Zeitschrift forum:logopädie zum Thema „Redeflussstörungen“ veröffentlicht wurden, sowie die Abstracts der letzten zwei Jahre und eingereichte Abschlussarbeiten und Artikel finden Sie über unsere Datenbank evi-logo. Dazu einfach in das Suchfeld „Stottern“ bzw. „Poltern“ eintippen und auf „Dokumente filtern“ klicken.
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