Redeflussstörungen (Stottern/Poltern)
Redeflussstörungen sind Auffälligkeiten im Sprechablauf, die verschiedene Ursachen habe und sich in verschiedenen Störungsbildern zeigen können.
Es kann zu Beschleunigungen und Verlangsamungen des Sprechflusses, aber auch zu Wiederholungen, Dehnung, Zusammenziehungen und Blockaden kommen. Redeflussstörungen können in Form von Stottern und/oder Poltern auftreten. Redeflussstörungen können gezielt erkannt und in allen Altersgruppen gut behandelt werden. Auch das Wissen über Ursachen und Erscheinungsbild hilft, Redeflussstörungen zu erfassen und Betroffene spezifisch zu beraten.
Ursachen
Stottern
Nach heutigem Kenntnisstand ist Stottern zu einem großen Teil genetisch bedingt.
Das bedeutet, dass eine Veranlagung zum Stottern vererbt wird.
Diese Veranlagung scheint Auffälligkeiten im Gehirn (in linkshemisphärischen Regionen) zu verursachen, die für die Sprech- und Sprachplanung zuständig sind. Dies wurde in bildgebenden Untersuchungen stotternder Proband*innen nachgewiesen. Die neurologisch bedingte Fehlsteuerung der Sprechmotorik bedingt zunächst dezente Kernsymptome.
Damit ist die früher verbreitete Theorie, nach der Stottern erst dadurch entstehe, dass die Eltern einen negativen Fokus auf das unflüssige Sprechen des Kindes legen und es dem Kind damit „bewusst“ wird, widerlegt. Auch ein bestimmtes Erziehungsverhalten oder negative Erlebnisse in der Kindheit sind keine Ursachen für Stottern.
Poltern
Es wird diskutiert, ob Poltern dadurch zustande kommt, dass im Gehirn neurophysiologische Aktivierungen von der Norm abweichen, und dadurch sprachliche Äußerungen, bevor ihre Planung abgeschlossen ist, bereits gesprochen werden.
Die genauen Ursachen sind allerdings noch nicht hinreichend sicher geklärt.
Poltern ist keine psychische Störung.
In vielen Anamnesegesprächen wurde festgestellt, dass Poltern familiär gehäuft auftritt (Weiss, 1964, Becker & Grundmann, 1970, Op’t Hof & Uys, 1974: alle in Sick, 2014).
Häufigkeit
Stottern
Europäischen Studien zufolge stottern etwa 5% aller Kinder.
Im Erwachsenenalter stottern ca. 1% der Bevölkerung, dabei sind mehr Männer als Frauen betroffen (4:1).
Poltern
Aktuelle wissenschaftlich fundierte Prävalenzraten (Auftretenshäufigkeit) gibt es nicht. In einer Studie aus den 70er Jahren wird ein Prozentsatz von 0,4% der Bevölkerung angegeben.
Studien aus den 80er und 90 er Jahren geben an, dass reines Poltern seltener als reines Stottern auftritt.
Oft werden auch Mischformen von Poltern und Stottern mit unterschiedlichen Gewichtungen der beiden Störungen beobachtet.
Symptome
Stottern
Stottern zeigt sich als eine Störung des Redeflusses. Man unterscheidet dabei Kernsymptome und Reaktionen auf diese, sog. Begleitsymptome bzw. Copingstrategien.
Die primären (eigentlichen) Stottersymptome können sein:
- Wiederholung von Einzellauten oder Silben: „ich k-k-k-komme dann um fü-fü-fü-fünf"
- Lautdehnungen: „vvvvvvvielleicht am SSSSSSSSSamstag"
- Hörbare oder stumme Blockaden: „i……ch brauche manchmal ………etwas länger"
Nahezu jeder Stotternde entwickelt dazu im Verlauf seiner Stottererfahrungen ein eigenes Repertoire an Strategien, um diese primären Symptome zu umgehen oder möglichst unauffällig zu überwinden:
z. B. "Also, ähm, ich mmmöchte mich b----, also jetzt b—ei … Ihnen, ähm also vo-vo-vorstellen.".
Diese sekundären Symptome können sein:
- Starthilfen (ähm, also, ich sag mal,…)
- Lückenfüller (Räuspern, ähm, Nachdenken)
- Abbrüche und ggf. veränderte Neuversuche („gestern war ich im K----, also hab ich mir einen Film angesehen")
- Verzicht auf aktive Teilnahme an Kommunikation
- Körperliche Reaktionen (z.B. starkes Pressen, ruckartige Bewegungen von Hand, Fuß, Kopf, …)
- Sprachliche „Umwege“ (durch Veränderung von Grammatik, Satzbau und Wortwahl)
Dies führt zuweilen dazu, dass Stotternde nach außen nicht als solche erkannt werden, sondern eher den Ruf haben, „umständliche“ Gesprächspartner zu sein. So werden auch stotternde Schüler von ihren Lehrern oft als still und schüchtern oder auch uninteressiert und unwissend eingestuft und entsprechend beurteilt.
Die beschriebenen Kommunikations- und Vermeidestrategien helfen Stotternden zwar oft über einzelne Symptome hinweg, bewirken jedoch keine grundsätzliche Veränderung der Problematik. Stattdessen werden sie meist zum festen Bestandteil des "Sprechinventars" und stellen dann oft eine größere Auffälligkeit dar, als es das "Nettostottern" (nur primäre Symptome) wäre.
Die Verkettung von Kernsymptomen und Reaktionen darauf können rasch zu einem sich selbst verstärkenden Kreislauf werden, den negative psychische Reaktionen wie sprechbezogene Ängste und/oder Schamgefühle antreiben. Stress und negative Emotionen beim Sprechen erhöhen wiederum die Auftretenswahrscheinlichkeit des Stotterns. Die Symptomatik des Stotterns kann sowohl situativ auch als phasenweise stark schwanken, was den Umgang damit für Betroffene erschwert.
Poltern
Poltern zeigt sich auch bei Erwachsenen in
- schnellem und / oder unregelmäßig (irregulär) schwankendem Sprechtempo
- Auslassungen, Verschmelzungen und artikulatorische Veränderungen von Lauten, Silben, Wörtern und Phrasen auf.
Beispiel
"chamand brochen" (Ich habe mir meine Hand gebrochen).
- Sprechen ist schwer verständlich, phasenweise unverständlich
- Prosodie (Betonung) ist häufig auffällig
- Unflüssigkeiten in Form von Wiederholungen von Silben, Wörtern und Satzteilen, oder lockeren Lautwiederholungen.
Beispiel
"Chill, cheiß ni nich" (Ich will- ich weiß ni-nicht).
- Satzabbrüche, Wortabbrüche
- Einschübe von Flicklauten oder Flickwörtern
- mangelnde Sprechkontrolle
Die meisten polternden Menschen wissen zwar, dass sie schnell und undeutlich sprechen, können ihr Sprechen in den spezifischen Sprechsituationen aber nicht kontrollieren.
Es können dadurch Sprechängste auftreten, die teilweise zum Vermeiden von Sprechsituationen führen. Einem Teil der polternden Menschen gelingt es nicht, ihre Redeinhalte für den Gesprächspartner verständlich zu strukturieren.
- Äußerungen beziehen sich inhaltlich und grammatisch nur unzureichend aufeinander und der sogenannte "rote Faden" ist nicht oder nur schwer zu erkennen
- Nebenthemen werden dabei ausführlich dargestellt, während es gleichzeitig nicht gelingt, das Hauptanliegen klar zu beschreiben.
- Neigung zum Monologisieren
- Schwierigkeiten, eigene Äußerungen umzuformulieren, wenn der Gesprächspartner diese nicht verstanden hat.
Die Symptome von Poltern sind individuell unterschiedlich gewichtet.
Was können Betroffene tun?
Ältere Kinder, Jugendliche und Erwachsene begleitet das Stottern und/oder Poltern meist schon über eine längere Zeit. Die ohnehin vorkommenden Schwankungen der Symptomatik können durch besondere Umstellungen im Alltag, wie Schulwechsel, Jobwechsel, Lebensereignisse wieder verstärkt werden.
Sobald Stottern und/oder Poltern in der Kommunikation und im Verhalten im Alltag als hinderlich erlebt wird, ist eine Beratung und ggf. Therapie erforderlich.
Betroffene sollten sich hierfür an eine auf Redeflussstörungen spezialisierte, logopädische/sprachtherapeutische Praxis oder Einrichtung wenden.
Die dbl-Website bietet eine gute Hilfe zur Logopädensuche, ebenso können die jeweiligen Landesverbände des dbl regionale Informationen zu geeigneten Logopäden und Logopädinnen geben. Erfahrene Stotter-/Poltertherapeuten mit Angabe ihrer Arbeitsschwerpunkte sind auch im Therapeutenverzeichnis der BVSS (Bundesvereinigung der Stotterer Selbsthilfe) vertreten. International gibt es die "International Cluttering Association" (ICA), deren Vertreter gerne angeschrieben werden können.
Literatur und Material
BVKJ (Hrsg.) (2016). Stottern. Ein Leitfaden für die kinder- und jugendärztliche Praxis.
Natke, U. & Kohmäscher, A. (2020). Stottern: Wissenschaftliche Erkenntnisse und evidenzbasierte Therapie. Neuss: Natke-Verlag
Neumann, K., Euler, H.A., Bosshardt, H.G., Cook, S., Sandrieser, P., Schneider, P., Sommer, M. & Thum, G.* (Hrsg.: Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie) (2016). Pathogenese, Diagnostik und Behandlung von Redeflussstörungen
. Evidenz- und konsensbasierte S3-Leitlinie, AWMF-Registernummer 049-013, Version 1; www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/049-013.html. *im Auftrag der Leitliniengruppe
Sandrieser, P. & Schneider, P. (2015). Stottern im Kindesalter. Stuttgart: Thieme.
Schneider, P. (2013). Stottern bei Kindern erfolgreich bewältigen. Neuss: Natke Verlag
Sick, U. (2014). Poltern. Theoretische Grundlagen, Diagnostik, Therapie. Stuttgart: Thieme.
Wendler, J. & Appel, H. (2005). Lehrbuch der Phoniatrie und Pädaudiologie. Stuttgart: Thieme, S. 306.
dbl-Materialien
- Weitere Informationen finden Sie im dbl-Shop
- Positionspapiere
Behandlungsleitlinie
Die Verlinkung zur aktuellen Leitlinie zum Thema „Redeflussstörungen“ finden Sie unter: forum-logopaedie.de: medizinische Leitlinien
Links
- Fachzeitschriften:
- Der Kieselstein
Forum und Mitgliedermagazin der Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe - https://www.theifa.org/ - Journal of Fluency Disorders (Organ der International Fluency Association IFA)
- One Voice
The Newsletter of the International Stuttering Association (ISA)
- Der Kieselstein
- Fachorganisationen:
- IVS, Interdisziplinäre Vereinigung für Stottertherapie e.V. (Vereinigung von StottertherapeutInnen und WissenschaftlerInnen aus unterschiedlichen Disziplinen)
- IFA, International Fluency Association (Internationale, interdisziplinäre Fachorganisation auf dem Gebiet der Stottertherapie)
- Institute:
- Kasseler Stottertherapie – Kasseler Stottertherapie
- Stärker als Stottern - Stärker als Stottern
- Hamburger Stottertherapie - Hamburger Stottertherapie
- Bonner Stottertherapie - Bonner Stottertherapie
- Selbsthilfe:
- Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe e.V. (Dachverband der deutschen Selbsthilfe stotternder Menschen)
- ELSA, European League of Stuttering Associations (Europäischer Dachverband nationaler Stotterer-Selbsthilfeorganisationen)
- Flow Sprechgruppe (junge Selbsthilfe der BSVV)
- Sonstige:
- The Stuttering Homepage (Fundgrube für Fachleute und Betroffene an der Minnesota State University, Mankato, USA)
- Demosthenes-Institut (Literatur- und Filmmaterial, kostenpflichtig)
- Natke Verlag (Literatur- und Filmmaterial, kostenpflichtig)
- Sonstige:
- Deutscher Bildungsserver - Stottern und Poltern
- Stottern - und jetzt? - Website für stotternde Jugendliche
- Stuttering Foundation Nonprofil Organisation zur Hilfe Stotternder
Für Nicht-Mitglieder
Literatur
Die Artikel, die seit 2002 in unserer Zeitschrift forum:logopädie zum Thema „Redeflussstörungen“ veröffentlicht wurden, sowie die Abstracts der letzten zwei Jahre und eingereichte Abschlussarbeiten und Artikel finden Sie über unsere Datenbank evi-logo. Dazu einfach in das Suchfeld „Stottern“, „Poltern“ oder „Redeflussstörung“ eintippen, die Kategorie „Erwachsene“ wählen und auf „Dokumente filtern“ klicken.
Fortbildungen
Hier finden Sie alle dbl-Fortbildungen bei ProLog.
Arbeitskreis "Stottern"
Wenn Sie den fachlichen Austausch mit Kollegen und Kolleginnen suchen, dann setzen Sie sich mit dem Arbeitskreis in Verbindung.
Für unsere dbl-Mitglieder
Literatur
Unseren Mitgliedern bieten wir alle Artikel, die seit 2002 in unserer Zeitschrift forum:logopädie zum Thema „Redeflussstörungen“ veröffentlicht wurden, sowie eingereichte Abschlussarbeiten und Artikel über unsere Datenbank evi-logo an. Dazu einfach in das Suchfeld „Stottern“, „Poltern“ oder „Redeflussstörung“ eintippen, die Kategorie „Erwachsene“ wählen und auf „Dokumente filtern“ klicken.
Fortbildungen
Hier finden Sie alle dbl-Fortbildungen bei ProLog.
Verwenden Sie als dbl-Mitglied bei der Buchung den roten Gutschein, der für ausgewiesene dbl-Fortbildungen eingelöst werden kann und ggf. zusätzlich den blauen Gutschein für Präsenz-/Hybridseminare bei Prolog. So sparen Sie bis zu 100€. Für Online-Seminare kann der grüne Gutschein mit einem Rabatt von bis zu 50€ eingesetzt werden.
Mitgliederportal
Hier werden Fragen aus der Praxis diskutiert und Unterstützung durch Kollegen und Kolleginnen eingeholt. So ist kollegiale Beratung und praxisübergreifendes Arbeiten möglich.
Arbeitskreis "Stottern"
Wenn Sie den fachlichen Austausch mit Kollegen und Kolleginnen suchen, dann setzen Sie sich mit dem Arbeitskreis in Verbindung.