Meldung
Reform der Berufsgesetze quo vadis?
Die Eckpunkte der Bund-Länder Arbeitsgruppe
Von Bernhard Borgetto (für das BÜNDNIS Therapieberufe)
Die Reform der Berufsgesetze der Gesundheitsfachberufe und damit auch der Physiotherapie kommt voran. Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) hat im März dieses Jahres ein von einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe (BLAG) vorbereitetes Eckpunktepapier „Gesamtkonzept Gesundheitsfachberufe“ vorgelegt. Ein solches Eckpunktepapier ist im Gesetzgebungsprozess oftmals der erste inhaltliche Aufschlag und die Vorstufe zu einem Referentenentwurf aus dem jeweils federführenden Bundesministerium.
Über den politischen Prozess
Die 90. Gesundheitsministerkonferenz der Bundesländer hat im Juni 2017 das Vorsitzland gebeten, eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe einzurichten, die bis Ende 2019 einen Aktionsplan für eine bedarfsorientierte Ausbildung in den Gesundheitsfachberufen sowie eine Neustrukturierung der Aufgaben- und Kompetenzprofile erstellen sollte. Auch der Koalitionsvertrag für die 19. Legislaturperiode des Bundes sieht vor, die Ausbildung der Gesundheitsfachberufe im Rahmen eines Gesamtkonzeptes neu zu ordnen und die einzelnen Berufe zu stärken. Seit dem Frühjahr 2018 hat das BMG die Leitung der Arbeitsgruppe übernommen und gemeinsam mit den Gesundheitsressorts der Länder die vorliegenden Eckpunkte für ein „Gesamtkonzept Gesundheitsfachberufe“ entwickelt. Die Berufsverbände wurden mittels eines schriftlichen Fragenkataloges in diesen Entwicklungsprozess eingebunden.
Eingeschlossen sind darin die Diätassistenten, Ergotherapeuten, Logopäden, Masseure und medizinischen Bademeister, Medizinisch-technischen Assistenten für Funktionsdiagnostik, Medizinisch-technischen Laboratoriumsassistenten, Medizinisch-technischen Radiologie-assistenten, Orthoptisten, Physiotherapeuten, Podologen sowie PTA und Anästhesie- und Operationstechnischen Assistenzberufe. Die Berufsgesetze sind rund zwanzig oder deutlich mehr Jahre alt.
Die Themen und Inhalte der Eckpunkte kurz gefasst
Die BLAG geht in ihrem Papier auf Teilaspekte des Modernisierungsprozesses ein. Hier die Schlagworte in Kurzfassung:
Schulgeldabschaffung: der Zugang zu den Berufen soll ohne finanzielle Hürden erfolgen
Revision der Berufsgesetze: die Berufsgesetze einschließlich der Ausbildungs- und Prüfungsverordnungen werden modernisiert, kompetenz- und in der Lehre qualitätsorientiert ausgestaltet, eine Möglichkeit von Teilzeitausbildungen wird angesprochen
Durchlässigkeit der Ausbildungen: horizontal innerhalb der Ausbildungsberufe sowie vertikal hin zum Studium
Akademisierung und Einführung eines Direktzugangs: Ob eine akademische Ausbildung und wenn ja, in welcher Ausgestaltung (Teil- oder Vollakademisierung) in Betracht kommt, ist für jeden Beruf gesondert zu prüfen. Dabei sind insbesondere die Teilbarkeit des Tätigkeitsspektrums (verschiedene Niveaus), die Größe der Auszubildendengruppe, der schon bestehende Akademisierungsgrad und der Anteil der Auszubildenden mit (Fach-) Hochschulreife relevant. Im Zuge der Akademisierungsfrage soll auch durch das BMG der Direktzugang für jeden Gesundheitsfachberuf gesondert geprüft werden.
Ausbildungsvergütung: auf der Grundlage tarifvertraglicher Regelungen
Neu zu regelnde Berufe: es werden keine Berufe unterhalb der fachschulischen Ausbildung auf Assistenz- oder Helferniveau vorgesehen.
Finanzierung – unterschiedliche Akteure: Bund, Länder, private Träger, Krankenhausgesellschaft u.a.
Der mit der BLAG und dem Eckpunktepapier laufende politische Prozess dockt an einen bereits laufenden politischen Prozess an. Denn: Erste Schritte hin zu einer Öffnung der Berufsgesetze für ein primärqualifizierendes Studium (staatliche Prüfung plus Bachelorabschluss) erfolgten für einige dieser Berufe – darunter die Physiotherapie – im Rahmen einer Modellklausel bereits 2009. Die Ergebnisse der Evaluation der Modellstudiengänge soll(t)en deshalb bei der Reform der Berufsgesetze berücksichtigt werden.
Die fachlichen Aspekte: Evidenz in der Therapie ohne Akademisierung der Therapeut*innen - ein Missverständnis?
Die BLAG vertritt die grundsätzlich begrüßenswerte Auffassung, dass in den Ausbildungen „Kompetenzen erworben werden [sollen], die eine evidenzbasierte Versorgung von Patientinnen und Patienten aller Altersgruppen umfasst.“ (EPP, 2) . Und weiter: „Sie sollen insbesondere zur evidenzbasierten Entscheidungsfindung und zu evidenzbasiertem Handeln in der individuellen Patientenversorgung befähigen und Kompetenzen zur Förderung interprofessioneller Zusammenarbeit vermitteln.“ (EPP, 4).
Das hört sich doch gut an – sollte man meinen. Aber es passt leider nicht damit zusammen, dass im Themenschwerpunkt Akademisierung des Eckpunktepapiers Prüfaufträge formuliert werden, die unvollständig sind. So soll laut BLAG für die Logopädie eine Vollakademisierung geprüft werden, für die Physiotherapie und die Ergotherapie hingegen nur eine Teilakademisierung. Faktisch würde das die Festschreibung der Spaltung der Ausbildung innerhalb der Physio- und Ergotherapie bedeuten. Diese Spaltung hätte darüber hinaus auch zur Folge, dass eine Spaltung der Berufsbilder und der Tätigkeiten erfolgen müsste – mit unterschiedlichen Kompetenzen und Vergütungen/Tarifverträgen. Um den Prüfaufträgen und allen Berufsgruppen gerecht zu werden, sollte man sich im ersten Schritt fragen, welche Vorstellung von evidenzbasierter Entscheidungsfindung und evidenzbasiertem Handeln diesem Entwurf der BLAG zugrunde liegt. Denn: Hierbei handelt es womöglich um ein weit verbreitetes Missverständnis - eine Verwechslung
- der Feststellung der Wahrscheinlichkeit der grundsätzlichen Wirksamkeit einer Therapieform und der Entscheidung, sie bei bestimmten Diagnosen anwenden zu können/dürfen
mit
- den konkreten Entscheidungs- und Handlungs-/Interaktionsprozessen im individuellen Therapieverlauf, die sich (auch) an der jeweils besten verfügbaren externen Evidenz orientieren.
Nur wenn man die erstgenannte Variante zugrunde legt, kann man auf die Idee kommen, dass nicht jede/r Therapeut*in in der Lage sein muss, selbst aktuelle Studienergebnisse kritisch rezipieren zu können, um sie fallbezogen und unter Berücksichtigung interner Evidenzen gemeinsam mit der Patient*in anwenden zu können.
An dieser Stelle bietet es sich an, aus einer Mail eines der Granden der Evidenzbasierten Medizin (EbM) von 2018 zu zitieren: „Aber das ist nicht die Domäne der EbM. Sie sorgt dafür, dass im Medikamentenschrank der Klinik (und ihrer größeren „Rüstkammer“) nur Evidenzbasiertes steht. Wie die Verbindung zum einzelnen Kranken hergestellt wird, ist von der EbM nie systematisch entwickelt worden. Man liest zum Beispiel von „Anwendung“, was etwas hilf- und ratlos anmutet.“
Und mehr noch als in der Medizin, muss doch in der Therapie ein Verständnis von Evidenzbasierung Anwendung finden. Die therapeutischen Prozesse, also Befund, Behandlung,Informationsaufnahme und Interaktion sowie Entscheidungsfindung laufen parallel in einem Handlungsvollzug ab.Sie beeinflussen und steuern sich gegenseitig – das gilt für die evindenzbasierte Vorgehensweise in allen Gesundheitsberufen. Hieraus begründet sich die Einheit der therapeutischen Berufe und die Notwendigkeit ihrer Akademisierung. Die Verbindung der Evidenzbasierten Medizin und deren Praxis auf dieser Grundlage systematisch zu entwickeln, ist eine der wichtigsten Aufgabe der (akademischen) Zukunft in der Gesundheitsversorgung.
Wirtschaft vor Gesundheit?
Schaut man sich die Prüfaufträge im Eckpunktepapier genauer an, bekommt man einen weiteren Einblick in die Gedankenwelt der BLAG:
„Ob eine akademische Ausbildung und wenn ja, in welcher Ausgestaltung (teil- oder vollakademisch) in Betracht kommt, ist für jeden Beruf gesondert zu prüfen. Dabei sind neben den in der Einleitung genannten Faktoren insbesondere die Teilbarkeit des Tätigkeitsspektrums (verschiedene Niveaus), die Größe der Auszubildendengruppe, der schon bestehende Akademisierungsgrad und der Anteil der Auszubildenden mit (Fach-) Hochschulreife relevant.“ (s. 7).
Eine Teilbarkeit des Tätigkeitsspektrums der Therapieberufe ist nicht gegeben, zumindest nicht dann, wenn man sich am Sozialgesetzbuch V (SGB V) orientiert. Dort ist in § 70 SGB V festgelegt (Hervorhebungen vom Autor):
„(1) Die Krankenkassen und die Leistungserbringer haben eine bedarfsgerechte und gleichmäßige, dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Versorgung der Versicherten zu gewährleisten. Die Versorgung der Versicherten muss ausreichend und zweckmäßig sein, darf das Maß des Notwendigen nicht überschreiten und muss in der fachlich gebotenen Qualität sowie wirtschaftlich erbracht werden.
Eine nicht im Sinne des therapeutischen Prozesses konzipierte Evidenzbasierte Praxis würde dem Kriterium der fachlich gebotenen Qualität auf der Grundlage des allgemein anerkannten Stands der medizinischen Erkenntnisse nicht entsprechen.
Und was ist von der Größe der Auszubildendengruppe, dem schon bestehenden Akademisierungsgrad und dem Anteil der Auszubildenden mit (Fach-) Hochschulreife als Prüfkriterien zu halten?
Die Größe der Auszubildendengruppe und der schon bestehende Akademisierungsgrad spiegeln insbesondere den zu erbringenden Aufwand bei einer vollständigen Verlagerung der Ausbildung an die Hochschulen wider. Eher wirtschaftliche, monetäre Argumente also. Und keine, die auf die Gesundheit der Bevölkerung abzielen.
Der Anteil der Auszubildenden mit (Fach-)Hochschulreife kann als Kriterium verstanden werden, das die Voraussetzungen einer Vollakademisierung prüft. Indirekt prüft es aber auch den (befürchteten) Bildungsaufwand, der als Voraussetzung einer Vollakademisierung betrieben werden müsste – vermeintlich. Hier ist die Sorge unbegründet, denn der Anteil derer, die eine (Fach-)
Hochschulreife haben, nimmt stetig zu. Und eine Vollakademisierung dürfte eine zusätzliche Anziehungskraft für die Schüler*innen der Zukunft haben.
Besorgniserregend und die Prioritäten der BLAG verdeutlichend ist die Tatsache, dass kein expliziter Auftrag zur Prüfung der Erfordernis einer Vollakademisierung für die Sicherstellung der bestmöglichen therapeutischen Versorgung formuliert wurde.
Quo Vadis? Die Richtung des Bündnisses Therapieberufe an die Hochschulen
Die Bund Länder-Arbeitsgruppe „Gesamtkonzept Gesundheitsfachberufe“ beschreibt in dem Eckpunktepapier die Herausforderungen in der Zukunft des Gesundheitswesens völlig zutreffend. Aber aus Sicht des Zusammenschlusses der acht mitgliederstärksten Berufs-, Hochschul- und Berufsfachschulverbände, leitet die Arbeitsgruppe daraus noch nicht die erforderlichen nächsten Maßnahmen ab. Um die Qualität der Gesundheitsversorgung zu sichern und vor dem Hintergrund des demografischen Wandels sowie der Zunahme chronischer Erkrankungen, den veränderten Versorgungsbedarfen gerecht zu werden, ist ein erhöhtes Anforderungsprofil bei der Ausbildung unabdingbar.
Die Empfehlung für eine künftige vollakademische Ausbildung in der Logopädie ist zwar ein erstes richtiges Signal. Vor dem Hintergrund der gestiegenen Bedarfe in der Versorgung müssen die Angehörigen der Gesundheitsberufe ihr eigenes Handeln auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse und Evidenz reflektieren und kritisch hinterfragen können. Dafür bildet die primärqualifizierende hochschulische Ausbildung zum Erreichen des Bachelor-Grades die entsprechende Voraussetzung - und das nicht nur für die Logopädie. Die angedachte gesetzliche Festschreibung einer "Teilakademisierung", also das Nebeneinander von hochschulischen und berufsfachschulischen Abschlüssen bei den übrigen Therapieberufen, wäre ein massiver Rückschritt und keine Weiterentwicklung dieser Berufe.
Die bisherigen Erfahrungen insbesondere in der Ergotherapie und der Physiotherapie zeigen bereits heute, dass diese Parallelität der Ausbildungsformen die Berufsgruppen spaltet. Dieser Ansatz löst nicht die Herausforderung, mittelfristig eine flächendeckende wohnortnahe Patientenversorgung auf erforderlich hohem Niveau zu sichern.
Die Herausforderungen im Gesundheitswesen erfordern eine Erhöhung des Ausbildungsniveaus, was nur mit einer vollständigen hochschulischen Verankerung der Berufsausbildung der Gesundheitsfachberufe erreicht werden kann. Das Nebeneinander von verschiedenen Ausbildungswegen in der jeweiligen Profession bringt schon heute für alle Beteiligten – Berufseinsteigende, Arbeitgebende sowie Patientinnen und Patienten – enorme Verunsicherung und Unklarheit mit sich und wird durch das Bündnis „Therapieberufe an die Hochschulen“ als nicht zukunftsfähig gewertet.
Mit der Verortung unserer Berufsausbildungen an Berufsfachschulen bildet Deutschland europaweit das Schlusslicht, was zu einer gravierenden Benachteiligung der Berufsangehörigen in Bezug auf die Berufsanerkennung führt. Die Durchlässigkeit zum Europäischen Arbeitsmarkt ist damit gefährdet. Darüber hinaus sind Berufsfachschulen aufgrund ihres Auftrags und ihrer Strukturen keine Institutionen, an denen wissenschaftlich reflektierende Praktikerinnen und Praktiker ausgebildet werden können. Evidenzbasierte Diagnostik und Intervention, die komplexen Versorgungsbedarfen gerecht werden, erfordern eine wissenschaftliche Qualifikation aller Berufsangehörigen. Das Nebeneinander von schulischer und hochschulischer Ausbildung muss daher vollständig an die Hochschulen überführt werden, um die Qualität und Attraktivität der Ausbildungen zu steigern. Hochschulische Ausbildungen sichern damit sowohl die Patientenversorgung als auch die Weiterentwicklung der jeweiligen Fachexpertisen durch Wissenschaft und Forschung.
Die Sorge, dass eine hochschulische Ausbildung nicht zur Therapie mit Patientinnen und Patienten qualifiziert, ist schon aufgrund des hohen praktischen Ausbildungsanteils im Studium unbegründet. Dieser ist in keinem zur Therapie qualifizierenden Studium geringer als in einer berufsfachschulischen Ausbildung. Davon abgesehen würde auch niemand Ärzten und Ärztinnen Praxisferne vorwerfen, weil sie an einer Universität ausgebildet wurden.
Das Bündnis „Therapieberufe an die Hochschulen“ ist davon überzeugt, dass die erforderlichen Studienkapazitäten für eine flächendeckend hochschulische Ausbildung in den Fachrichtungen Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie in einem sukzessiven Transformationsprozess innerhalb der nächsten zehn Jahre erreicht werden kann und muss. Voraussetzung dafür ist allerdings der politische Wille und die Einsicht, dass dieser Schritt längst überfällig ist.
Über das Bündnis Therapieberufe an die Hochschulen
In diesem Bündnis haben sich mit dem Deutschen Bundesverband für Logopädie e.V. (dbl), dem Deutschen Verband der Ergotherapeuten e.V. (DVE), dem Hochschulverbund Gesundheitsfachberufe e.V. (HVG), dem Bundesverband selbstständiger Physiotherapeuten e.V. (IFK), dem Deutschen Verband für Physiotherapie e. V. (PHYSIO-DEUTSCHLAND), dem Verbund für Ausbildung und Studium in den Therapieberufen (VAST), dem Verband Physikalische Therapie e.V. (VPT) und dem Fachbereichstag Therapiewissenschaften (FBTT), die mitgliederstärksten Berufs- und Ausbildungsverbände dieser Berufsfelder zusammengeschlossen. Gemeinsam repräsentiert das Bündnis Therapieberufe an die Hochschulen die führenden Bündnisse der Hoch- und Berufsfachschulen sowie über 130.000 Ausübende und Auszubildende der Gesundheitsfachberufe Logopädie, Ergotherapie und Physiotherapie, die die künftige Patientenversorgung in Deutschland gewährleisten sollen. Dies ist der Großteil der jeweiligen organisierten Arbeits- und Ausbildungsleistenden.