Orofaziale myofunktionelle Störung (OMS)
Als orofaziale myofunktionelle Störungen (OMS), auch orofaziale Dysfunktionen (OFD) genannt, bezeichnet man motorische und/oder sensorische Auffälligkeiten der Muskelfunktionen im Mund-Gesichts-Bereich, die von der normalen (physiologischen) Entwicklung abweichen. Der offenen Mundhaltung (OMH) und der daraus häufig folgenden fehlenden Ruhelage der Zunge am Gaumen kommt eine vorrangige Bedeutung zu. Daneben können, meist als Folge der OMH, dysfunktionale Bewegungsmuster beim Atmen, Kauen, Beißen, Schlucken, dem Sprechen und der Stimmgebung auftreten. Neben diesen Auswirkungen zeigen sich unphysiologische Entwicklungen auch in strukturellen Auffälligkeiten, wie einem schmalen Kiefer mit Zahnengstand bzw. -fehlstellungen.
Die logopädische Behandlung von orofazialen myofunktionellen Störungen (OMS) bezeichnet man als Myofunktionelle Therapie (MFT).
Ursachen
Die Entstehung einer OMS kann meist nicht nur einer spezifischen Ursache zugeordnet werden.
Die offene Mundhaltung (OMH) gilt derzeit als Hauptursache und gleichermaßen Leitsymptom. Sie wird u.a. als Haltungsschwäche (oder habituelle OMH) bezeichnet, wenn keine medizinische Ursache wie z.B. behinderter Nasenatmung durch Infekte, Allergien oder Asthma vorliegt. Ebenso kann sie durch äußere Faktoren (Habits) aufrechterhalten werden, wie beispielsweise Daumenlutschen, das häufige Einziehen oder Ablecken der Lippen oder zu häufigen Gebrauch des Schnullers. Der fehlende komplette Lippenschluss führt zu einer Störung des im Ruhezustand vorhandenen Gleichgewichts zwischen äußerer und innerer Lippen-, Zungen- und Wangenmuskulatur einerseits und den von ihnen umschlossenen knöchernen Strukturen.
Aber auch fehlendes Training der Muskulatur (z.B. durch wenig kauintensive Nahrung) kann ein Entstehungsfaktor für OMS sein. Eine weitere Möglichkeit sind genetische Ursachen, z.B. im Zusammenhang mit Syndromen.
Häufigkeit
Folgende Studie gibt Auskunft über die Häufigkeit von OMS bei Kindern im Vor- und Grundschulalter:
Grabowski und Stahl (2008):
Untersuchung 2003/2004 von 3041 Kindern, davon 766 in Milchgebiss-, 2275 in Wechselgebissphase (Alter zwischen Ø 4,4 und 8,4)
- OMS gekennzeichnet durch habituell offene Mundhaltung
- Im Milchgebiss 39% (296 von 766 Kindern)
- Im Wechselgebiss 43% (980 von 2275 Kindern)
- OMS gekennzeichnet durch unphysiologische Zungenruhelage:
- Im Milchgebiss: 34% (260 von 766 Kindern)
- Im Wechselgebiss: 42% (965 von 2275 Kindern
Symptome
Einzelne oder mehrere der folgenden Anzeichen können auf eine OMS hinweisen:
- Offene Mundhaltung (fehlender kompletter Lippenkontakt in Ruhe; Zunge in Ruhe nicht am Gaumen angelegt; trockene, rissige Lippen; aufgerollte Unterlippe; verkürzte, nach oben gezogene Oberlippe; angespannter Kinnmuskel; kein Lippenkontakt beim und nach dem Sprechen; Schnarchen; müdes Aussehen; Wachstum des Gesichts in die Länge und weniger in die Breite)
- Gestörte Atemfunktion (z.B. Mundatmung)
- Gestörte Kaufunktion (Vermeidung oder Ablehnung harter Nahrung; Kaugut wird nicht ausreichend zerkleinert; Kauen mit offenem Mund; vermehrte Speichelbildung beim Kauen; verschmierter Mund beim Essen; einseitiges Kauen; einseitige oder keine Seitwärtsbewegung des Unterkiefers; Zunge hat Schwierigkeiten, das Kaugut nach links und rechts zu transportieren)
- Gestörte Schluckfunktion (angespannte Lippen; angespannter Kinnmuskel; Vorwärtsbewegung des Kopfes; Zunge drückt beim Schlucken Kaugut vorne oder seitlich durch die Zähne)
- Gestörte Artikulation und Stimmgebung (undeutliches Sprechen mit wenig Lippenbewegung; falsche oder fehlende Aussprache von Lauten; angestrengte Stimmgebung, rauer Stimmklang)
Weitere Anzeichen können sein:
- Ansaugen der Zunge/Schnalzen nicht möglich
- Eingeschränkte Zungenbeweglichkeit (insbesondere Zunge kann sich nicht frei bewegen, braucht Unterstützung durch Unterlippe)
- Verkürztes Zungen-/Lippenband mit Funktionseinschränkung (z.B. Zunge kann nur sehr wenig seitwärts oder nach oben bewegt werden)
- Gestörte orale Wahrnehmung und Unterscheidungsfähigkeit
Was können Eltern tun?
Können Eltern eines oder mehrere Anzeichen bei ihrem Kind beobachten, wenden sie sich zunächst an Kinderärzte und -ärztinnen oder Kieferorthopäden und Kieferorthopädinnen. Atmet ein Kind verstärkt durch den Mund oder ist der Mund häufig geöffnet, sollte zudem frühzeitig eine HNO-ärztliche Abklärung stattfinden. Die Fachärzte und -ärztinnen stellen bei Behandlungsbedarf eine Verordnung für logopädische Therapie aus. Logopädinnen und Logopäden stellen zu Beginn den Umfang und das Ausmaß der Störung fest und besprechen mit den Betroffenen und deren Angehörigen die geplante Therapie. Diese erfolgt, wenn notwendig, in enger interdisziplinärer Zusammenarbeit mit anderen Fachbereichen.
Neben der Behandlung durch Logopädinnen und Logopäden kommt bei OMS der Vorbeugung eine große Bedeutung zu. Kauintensive Nahrung unterstützt ab ca. dem 6. Lebensmonat und während der gesamten Entwicklung die Umstellung vom Saug-Schluck-Muster beim Stillen/der Flaschenfütterung auf das Kau-Schluck-Muster. Gleichzeitig fördert sie eine gute Entwicklung sowohl der gesamten Mund-Gesichts-Muskulatur als auch der knöchernen Strukturen dieses Bereiches.
Um den kompetenten Lippenschluss und die Zungenlage am Gaumen zu fördern, sollte ein Schnuller nur sehr sparsam und bewusst verwendet werden (wie ein Medikament). Bei langanhaltenden Lutschgewohnheiten, wie z.B. dem Daumenlutschen, empfiehlt sich eine logopädische oder ärztliche Beratung.
Literatur und Material
Bigenzahn, W. (2002). Orofaziale Dysfunktionen im Kindesalter: Grundlagen, Klinik, Ätiologie, Diagnostik und Therapie. 2. überarb. Aufl., Stuttgart: Thieme.
Furtenbach, M./Adamer, I. (Hg.) (2016). Myofunktionelle Therapie KOMPAKT II - Diagnostik und Therapie // Diagnostik und Therapie. Wien, Praesens Verlag.
Grabowski, R./Stahl, F. (2008). Die offene Mundhaltung im Kindesalter – Häufigkeit und Folgewirkungen. Informationen aus Orthodontie & Kieferorthopädie 40 (2), 101-109.
Kittel, A.M./Oster, N.T. (2022). Myofunktionelle Störungen. Ein Ratgeber für Eltern und erwachsene Betroffene. Idstein: Schulz-Kirchner.
Pfaller-Frank, K. (2019). Behandlungshierarchien bei orofazialen Dysfunktionen. Informationen aus Orthodontie & Kieferorthopädie 51 (03), 201–206.
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Links
Beobachtungsbogen für Eltern zur offenen Mundhaltung: http://www.praesens.at/praesens2013/wp-content/uploads/daten/Download%20MFT%20III/Download_01_Beobachtungsbogen_OMH.pdf
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