Lese-Rechtschreibstörung (LRS)
Bei einer Lese-Rechtschreibstörung (LRS) handelt es sich um eine Entwicklungsstörung des Lesens und Schreibens, die nicht auf mangelnde Unterrichtung, nicht auf fehlende Gelegenheit zu Lernen, nicht auf mangelnde Intelligenz und nicht auf eine körperliche Erkrankung (z. B. eine Sehstörung) zurückzuführen ist.
Häufig werden statt „LRS“ auch die Begriffe „Legasthenie“ oder Lese-Rechtschreibschwäche verwendet. Diese Begriffsvielfalt resultiert u. a. daraus, dass sich unterschiedliche Professionen z. T. bereits über mehr als ein Jahrhundert mit dem Phänomen befasst und es in ihren Fachsprachen beschrieben haben (z. B. Psychologie, Medizin, Psychiatrie, Patholinguistik, (Sprachheil-)Pädagogik, Logopädie, etc.).
Die Begriffe sind untereinander nicht klar abzugrenzen. Hinzu kommt, dass auch kein Begriff für sich mit einer stets einheitlichen Bedeutung verwendet wird.
Aus wissenschaftlicher Sicht spricht man von sogenannten „Teilleistungsstörungen“, die sich erschwerend auf den Erwerb des Lesens und/oder des Schreibens auswirken und die differenziert diagnostiziert werden können und sollten.
Denn: wird eine LRS im Kindesalter nicht rechtzeitig festgestellt und gezielt behandelt, wirkt sie sich erschwerend auf die Bildungsbiographie aus und führt in vielen Fällen zu schulischen, beruflichen und privaten Nachteilen – nicht selten auch psychischen Belastungsfolgen.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ordnet der LRS in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD 10) einen Krankheitswert zu und fasst folgende Erscheinungsformen unter der dem Diagnoseschlüssel F.81 („Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten“) zusammen:
- Lese- und Rechtschreibstörung (F81.0)
- Isolierte Rechtschreibstörung (F81.1)
Forschergruppen, die sich in den letzten Jahren vor allem mit der Frage beschäftigt haben, welche Rolle des Arbeitsgedächtnisses (AG) für das Lesen und Rechtschreiben spielt, fanden auch Nachweise für die Existenz einer Isolierten Lesestörung, da Probleme beim Lesen mit anderen Problemen im AG in Verbindung standen als Probleme beim Rechtschreiben.
Die Diagnose „isolierte Lesestörung“ findet sich bislang jedoch ausschließlich in der DSM-5, dem im amerikanischen Raum bedeutsamsten Klassifikationsmodell psychiatrischer Erkrankungen.
Ursachen
Die Ursachen einer LRS sind vielfältig, aber bis heute nicht abschließend geklärt.
Genetische und neurobiologische Ursachen konnten nachgewiesen werden.
Die Wahrscheinlichkeit für eine LRS steigt, wenn der Vater oder die Mutter ebenfalls von einer LRS betroffen sind. Dies allein verursacht jedoch nicht „automatisch“ eine LRS.
Neurobiologische Forschungsergebnisse erbrachten Nachweise dafür, dass sich die Verarbeitungsmuster beim Lesen und Schreiben im Gehirn von Menschen mit LRS von denen nicht Betroffener unterscheiden. Diese veränderten neurobiologischen Verarbeitungsprozesse beeinflussen kognitive Funktionen, die wiederum mit dem Lese- und/ oder Schreibprozess in Verbindung stehen. Dazu zählen:
übergeordnete kognitive Prozesse/Teilleistungen: Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeit, auditive und visuelle Wahrnehmung/Verarbeitung
Vorläuferfertigkeiten für den Lese- und Schreiberwerb: phonologische Bewusstheit, morphologische Bewusstheit, Buchstabenkenntnis, Fähigkeit zum schnellen Benennen (rapid naming) und der Wortschatz.
Aufgrund der Bedeutung der Vorläuferfähigkeiten für den Lese- und Schreiberwerb wird angenommen, dass Sprachentwicklungsauffälligkeiten und Lese-Rechtschreibschwierigkeiten auf gemeinsame Ursachen zurückzuführen sind.
Häufigkeit
Die drei möglichen Formen der LRS (Lesestörung, Rechtschreibstörung, kombinierte Lese-Rechtschreibstörung) treten jeweils mit einer Häufigkeit von ca. 4-5 % bei Kindern und Jugendlichen auf (Schulte-Körne, 2017).
„Die Lese- und/oder Rechtschreibstörung […] ist eine der häufigen schulischen Entwicklungsstörungen […]“
(Schulte-Körne, 2017, 476).
Es gibt Hinweise dafür, dass Jungen häufiger betroffen sind als Mädchen.
Symptome
Typische Symptome der Lesestörung:
- viele Fehler beim Wortlesen
- Schwierigkeiten beim Erlernen der Zuordnung und des Einprägens von Buchstaben und Lauten (Graphem-Phonem-Beziehungen)
- Probleme beim Zusammenziehen (Synthetisieren) einzelner Laute zu Wörtern
- Das automatisierte Lesen bleibt verlangsamt und fehlerhaft
- deutlich herabgesetzte Lesegeschwindigkeit
- beeinträchtigtes Leseverständnis
Typische Symptome der Rechtschreibstörung:
- Schwierigkeiten beim Erlernen und beim Einprägen der Laut-Buchstaben-Beziehung (Phonem-Graphem-Korrespondenz)
- Probleme beim „Heraushören“ einzelner Laute aus Wörtern (Phonemanalyse)
- Schreibweisen, die nicht lautgetreu sind (Auslassungen, Vertauschungen und Ersetzungen von Buchstaben ohne Verbindung zum Wortklang
- Häufige Fehler und unterschiedliche falsche Schreibweisen eines Wortes
- Das Einprägen der korrekten Schreibweise von Wortbestandteilen und Wörtern gelingt häufig nicht.
Diese Auffälligkeiten verändern sich trotz vermehrten häuslichen Übens nicht.
Wichtige Vorläuferfunktionen entwickeln sich bereits im Vorschulalter. Voraussetzung für die Entwicklung des Denkens, Lernens und Sprechens ist die Wahrnehmung, d.h. die Aufnahme von Reizen und die Verarbeitung im Gehirn. LRS-Kinder zeigen überdurchschnittlich häufig Wahrnehmungsprobleme sowie Sprachentwicklungsauffälligkeiten. Unaufmerksamkeit, Clownerie, motorische Unruhe, Frustration, mangelndes Selbstvertrauen, Bauchschmerzen, Kopfschmerzen oder Übelkeit sind häufige Begleiterscheinungen.
Ausschlussdiagnostik
Zur Diagnose einer LRS im Sinne der ICD-10 (s. o.) ist eine umfassende medizinische Untersuchung notwendig. Hierbei müssen alle Ursachen, die ebenfalls zu Erschwernissen beim Lese-Rechtschreiberwerb führen können (z. B. Seh-, Hörstörungen, kindliche Depressionen, neurologische Erkrankungen) als Ursache für die LRS ausgeschlossen werden, die Lese- und Rechtschreibleistung geprüft und die Schulleistungen, der Lernstand, die Gesamtentwicklung und Folgeprobleme sowie die Rahmenbedingungen begutachtet werden. Diese umfangreiche Untersuchung wird bei Kindern und Jugendlichen durch Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie oder von Kinder- und Jugendpsychotherapeuten gestellt.
Kriterien zur Diagnosestellung finden sich in der Leitlinie "Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Lese- und/oder Rechtschreibstörung".
Kosten
Auch bei einer vorliegenden fachärztlichen Diagnose nach ICD-10 werden die Kosten für eine außerschulische Therapiemaßnahme nicht von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen.
Diesen Ausschluss regelt die Anlage 1 der Heilmittelrichtlinie (Absatz b, Punkt 4).
Die Übernahme durch eine private Krankenversicherung ist in den Versicherungsbedingungen individuell geregelt.
Voraussetzung für die Übernahme der Kosten für eine LRS-Therapie durch das Jugendamt ist, dass das Kind eine „seelische Behinderung“ hat oder diese zu drohen scheint. Das heißt, dass die „geistige Fähigkeit“ oder „seelische Gesundheit“ länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 2 Abs. 1 SGB IX, Neufassung des § 35a SGB VIII).
Ansonsten muss eine Therapie privat bezahlt werden.
Was können Eltern tun?
Bei einem Verdacht auf eine Lese- und/oder eine Rechtschreibstörung sollten Eltern sich zunächst an die Lehrer*innen und an die Schulpsychologen und -psychologinnen wenden.
Der seit 2003 gültige Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) "Grundsätze zur Förderung von Schülerinnen und Schülern im Lesen und Rechtschreiben oder im Rechnen" betont neben der großen Bedeutung der Schriftsprache für die persönliche und berufliche Entwicklung auch die Verantwortung der Schule:
„[…] die Diagnose und die darauf aufbauende Beratung und Förderung der Schülerinnen und Schüler mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben [gehören] zu den Aufgaben der Schule.“
(KMK, 2003, S. 1)
Bei ihr liegt demzufolge bei auftretenden Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten auch die Verantwortung, Kinder individuell zu fördern. In den Erlassen der einzelnen Bundesländer, die von Bundesland zu Bundesland verschieden sind, sind diagnostische Anforderungen und Förderungsmöglichkeiten festgelegt. Unabhängig davon sollten die Kinder einen Nachteilsausgleich (z. B. Zeitzugaben bei Arbeiten und Prüfungen, Leistung mündlich abprüfen, Einsatz von Hilfsmitteln wie Computern mit Fehlerkorrektur) in allen Fächern, in denen Lesen und Schreiben erforderlich ist, erhalten. Oftmals ist eine außerschulische Förderung erforderlich.
Die Therapie einer diagnostizierten Lese-Rechtschreibstörung ist Aufgabe von Experten, z. B. Logopäden und Logopädinnen mit spezieller Zusatzqualifikation. Da Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten meist Auswirkungen auf das gesamte „Lernsystem“ haben, ist es wichtig, dass beide Eltern und die schulischen Bezugspersonen in die Therapie einbezogen werden. Auch weil Kinder mit einer LRS häufig seelische Auffälligkeiten entwickeln, z. B. Unsicherheiten oder Ängste, ist es wichtig, dass Eltern, Schule und Kind (unterstützt durch die Therapie) gemeinsam daran arbeiten, die Persönlichkeit und das Selbstkonzept des Kindes zu stabilisieren, etwa indem sie Talente und Fähigkeiten des Kindes entdecken und stärken.
Literatur und Material
Bundesverband Legasthenie und Dyskakulie e. V. (Hrsg) (2018). Legasthenie. Ratgeber zum Thema Legasthenie – Erkennen und Verstehen. Kostenloser Download
Costard, S. (2011). Störungen der Schriftsprache. Modellgeleitete Diagnostik und Therapie. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart: Thieme.
Galuschka, K. & Schulte-Körne, G. (2016). Diagnostik und Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Lese- und/oder Rechtschreibstörung. Deutsches Ärzteblatt, 113 (16), 279-286.
Grotlüschen, A. & Buddeberg, K (Hrsg.) (2020). LEO 2018. Leben mit geringer Literalität. Bielefeld: wbv. Kostenloser Download
Schnitzler, C. D. (2008). Phonologische Bewusstheit und Schriftspracherwerb. Stuttgart: Thieme.
Schulte-Körne, G. (2017). Lese- und/oder Rechtschreibstörung. Monatsschrift Kinderheilkunde, 165, 476–481.
Sekretariat der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der BRD: Grundsätze zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben oder im Rechnen. (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 04.12.2003 i. d. F. vom 15.11.2007)
SGB (Sozialgesetzbuch) zum Download: www.sozialgesetzbuch-sgb.de
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