Meldung
Medien: „Zahl der Kinder mit Sprachstörungen steigt“
Was ist dran? – Unser Faktencheck
Vergangene Woche veröffentlichte die Kaufmännische Krankenkasse in Hannover (KKH) eine Pressemitteilung, in der sie eigens erhobene Daten zur Anzahl von Störungen der Entwicklung des Sprechens und der Sprache bei Kindern präsentiert. Diese Meldung wurde von der Nachrichtenagentur dpa aufgegriffen und in renommierten Medien veröffentlicht sowie auf unterschiedlichen Social-Media-Kanälen geteilt. Die in der Pressemitteilung genannten Zahlen und Rückschlüsse, die daraus gezogen wurden, lassen sich von uns jedoch nicht nachvollziehen und sind zum Teil auch fachlich falsch dargestellt.
Vergleicht man die Aussagen der KKH mit den Angaben der Berichte aus dem GKV-Heilmittel-Informations-System*, sind Abweichungen festzustellen, was die Anzahl der Verordnungen angeht. So ist im ersten Pandemiejahr 2020 laut GKV-HIS, die Verordnungszahl bei den unter 5-Jährigen im Vergleich zum Vorjahr gestiegen, jedoch sank die Anzahl bei den weiteren Altersgruppen. Ähnlich sah es im darauffolgenden Jahr aus. Damit zeigen die Daten der GKV-HIS-Berichte einen gegenläufigen Trend zu den Daten der KKH.
Es ist zu hinterfragen, ob die vorliegenden Daten der KKH geeignet sind, um einen Bezug zur Anzahl der Sprachstörungen bei Kindern und Jugendlichen herzustellen, zumal der Begriff der Sprachentwicklungsstörung (SES) in den Medien sachlich falsch und undifferenziert verwendet wird. Näheres zu den Begrifflichkeiten können Sie beispielsweise in dem Beitrag von Prof. Dr. Wiebke Scharff Rethfeldt auf Instagram nachlesen, die anhand der Veröffentlichung der dpa-Meldung durch die Tagesschau darauf eingeht und diese erläutert.
In Deutschland liegen keine Daten vor, die eine Aussage darüber zulassen, wie viele Kinder eines Jahrgangs von einer Sprachentwicklungsstörung, Sprachstörung, Sprechstörung oder mehreren Störungen gleichzeitig betroffen sind. Die Verordnungszahlen zeigen lediglich, wie oft eine Ärztin oder ein Arzt eine Verordnung für logopädische Therapie mit einer bestimmten Diagnose ausgegeben hat. Während der logopädischen Befunderhebung wird der ärztliche Befund nicht immer bestätigt oder er wird um andere Diagnosen erweitert. Somit ist der direkte Rückschluss, dass die Diagnose auf einer Verordnung gleich der Anzahl einer bestimmten Störung ist, nicht folgerichtig.
Die Darstellung, dass geschlossene Logopädie-Praxen einen Teil zu der gestiegenen Anzahl an Sprachstörungen beigetragen haben, stimmt nicht. Logopädinnen und Logopäden sind in der Pandemie als systemrelevant eingestuft worden. So wurden durchgehend logopädische Therapien durchgeführt, diese waren zudem durch die Sondergenehmigung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) auch per Videotherapie möglich. So war die Durchführung unter Einhaltung von strengen Hygienevorschriften auch zu Hochzeiten der Pandemie möglich.
Alle Kinder und Jugendlichen – und somit auch Kinder mit einer Sprachentwicklungsstörung – profitieren von einem sprachförderlichen Umfeld und von attraktiven Sprechanlässen, die Sinnhaftigkeit und Freude von Kommunikation vermitteln. Für die Behauptung der KKH, dass der Spracherwerb während der Pandemie durch Kontaktbeschränkungen oder den maskenbedingten Wegfall des Mundbildes und der dadurch eingeschränkten Mimik erschwert gewesen sei, fehlen allerdings bislang wissenschaftliche Belege. Schul- und Kita-Schließungen und der Wegfall von Peer-Interaktionen im Freizeitbereich sind während der Pandemie eine offensichtliche Einschränkung sprachförderlicher Alltagssituationen gewesen. Möglicherweise lässt sich dadurch eine Zunahme sog. umgebungsbedingter Sprachauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen erklären, deren tatsächliche Zunahme jedoch erst in unabhängigen und belastbaren Studien erforscht werden muss. Wäre dies der Fall, dann müsste man in diesem Zusammenhang allerdings nicht von einer Sprachstörung, sondern von einer Sprachauffälligkeit sprechen.
Vor diesem Hintergrund wird wieder deutlich, dass eine differenzierte Sprachdiagnostik die Grundvoraussetzung dafür ist, zu unterscheiden, ob ein sprachlich auffälliges Kind eine Sprachentwicklungsstörung hat oder nicht und dementsprechend entschieden werden kann, was es braucht: Sprachförderung oder Sprachtherapie. Und wie wichtig es ist, über diese Unterschiede aufzuklären, damit nicht immer wieder in den Medien über eine scheinbar gestiegene Anzahl von Kindern mit „Sprachstörungen“ berichtet wird.
*„Träger des GKV-Heilmittel-Informations-System (GKV-HIS) ist seit dem 1. Juli 2008 der GKV-Spitzenverband. Die Projektdurchführung wird unterstützt durch die Informationstechnische Servicestelle der Gesetzlichen Krankenversicherung GmbH (ITSG), Heusenstamm.
Über das GKV-Heilmittel-Informations-System werden nach § 84 Abs. 5 SGB V Schnellinformationen zur Ausgaben- und Verordnungsentwicklung im Heilmittelbereich bereitgestellt. Die Schnellinformationen basieren auf den ungeprüften Abrechnungsdaten nach § 302 SGB V aller gesetzlichen Krankenkassen. Damit sollen die Verordnungsstrukturen in den Kassenärztlichen Vereinigungen transparent gemacht, Trendinformationen zur Ausgabenentwicklung gegeben und Kennzahlen für regionale Vergleichsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden.“ (https://www.gkv-heilmittel.de/fuer_vertragsaerzte/das_his_projekt/das_his_projekt.jsp)